Neue Zürcher Zeitung, Ressort Feuilleton, 30. Januar 2002, Nr.24, Seite 57
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Erinnerungen eines Lehrbuben

Franz Kafka, ganz naiv gesehen - ein Prager Fund

Als František Xaver Bašik im Jahre 1940 begann, seine Lebenserinnerungen zu schreiben, konnte er nicht ahnen, dass der Sohn seines ehemaligen Lehrherrn Herrmann Kafka, der kleine Franz, sich bereits auf dem Weg zum Weltruhm als einer der grössten Schriftsteller der modernen europäischen Literatur befand. In seinem Gedächtnis blieb er auch fünfzig Jahre danach immer noch der vier Jahre jüngere Franzl, dem er eine gewisse Zeit jeden Nachmittag TschechischUnterricht gab. Er wusste nicht einmal, dass sein kleiner Freund schon lange nicht mehr lebte. Mit dem Ausscheiden aus dem Lehrverhältnis zum 1. Februar 1895 wurden auch die Kontakte zum Geschäftshaus Kafka für immer abgebrochen. Gott sei Dank, muss man sagen, weil gerade dieses Nichtwissen, das Fehlen jeder Absicht, den Reiz seiner Erinnerungen ausmacht. Sie sind im besten Sinne des Wortes «naiv», von keinen späteren nachträglichen Deutungen verstellt, die jede harmlose Begebenheit im Nachhinein als bedeutend erscheinen lassen wollen.

František Xaver Bašik wollte auch nicht über die Familie Kafka schreiben, sondern über seinen eigenen Lebensweg, und dazu gehörten auch die Lehrjahre in einem Kurzwaren-Gross- und -Kleinhandel, dessen Inhaber ein gewisser Herrmann Kafka war. Im Unterschied zu dem kleinen Franz war für den Lehrling Frantík Herrmann Kafka keine zentrale Gestalt in seinem Leben, eher eine, wenn auch wichtige, Nebenfigur, ein Lehrherr eben, kein Vater. Fast nebenbei schildert Bašik den Arbeitsalltag im Geschäft und liefert einige interessante Details über den Alltag der Familie Kafka. Das Unbeabsichtigte an Bašiks Erinnerungen wirkt paradoxerweise bis heute. So brauchte sein Urenkel, ein Geschichtsstudent, dem die Erinnerungen seines Urgrossvaters kürzlich in die Hände kamen, ein paar Stunden, bis ihm klar wurde, mit welchem Kafka und welchen Kafkas er es hier zu tun hat.

Schlicht, aber ausdrucksvoll

Trotz fehlender höherer Bildung ist František Xaver Bašik kein unbegabter Schreiber. Offensichtlich um Distanz zu gewinnen, verfasst er seine Memoiren in der dritten Person. Sein Stil ist schlicht, aber ausdrucksvoll, seine Schilderung der Begebenheiten lebhaft, seine Erinnerung wach. Seine Memoiren beginnt Bašik mit dem Anfang seiner Lehre bei Herrmann Kafka: «An einem schönen Septembermorgen des Jahres 1892 trat in einen grossen Laden in der Zeltnergasse eine flinke alte Jüdin, begleitet von einer Frau und einem Buben. In dem Laden standen hinter der Theke einige Verkäufer, zu welchen, mit dem Rücken zum Eingang gewandt, der Inhaber des Geschäfts, Herr Herrmann Kafka, sprach. Dessen Namen kündigte draussen eine grosse, über die Auslage aufgehängte riesige schwarze Tafel mit goldenen Lettern an. Kafka merkte die Ankommenden und brach das Gespräch mit den Verkäufern ab, die sich daraufhin in die hinteren Räume entfernten, und wandte sich dem Besuch zu.»

«‹Guten Morgen, hier bringe ich Ihnen den neuen Lehrling, Herr Kafka›, sagte die Jüdin, Inhaberin eines Büros für Vermittlung kaufmännischen Personals. ‹Ich denke, er wird Ihnen gefallen.› ‹Guten Morgen›, erwiderte Kafka. ‹Sicher, nur scheint er mir noch zu klein, man wird ihn kaum hinter der Theke sehen.› ‹Er wird noch wachsen, ist erst vierzehn›, beeilte sich mit der Erklärung die Mutter des Buben. Kafka und Munková lachten.» Gleich an seinem ersten Arbeitstag lernt Frantík den Sohn des Geschäftsinhabers kennen: «Nach einer Weile schlenderte auf ihn ein kleiner schüchterner etwa zehnjähriger Bub zu, den er kaum registrierte, als er nachmittags bei der Mutter im Geschäft auftauchte. Es war Kafkas Sohn, auch Franz. Er trat zu Frantík und sagte: ‹Du bist der neue Lehrling, gelt? Ich heisse auch Franz.›»

Indem Bašik seine tägliche Arbeit im Geschäft beschreibt, bekommt man nicht nur den Einblick in das Innenleben des Familienunternehmens, sondern erfährt viel über orts- und zeitgebundene Realien des Geschäftslebens vor mehr als hundert Jahren, die auch zeitgeschichtlich interessant sind. Lebendig werden nicht nur einige Angestellte wie vor allem der in dem «Brief an den Vater» erwähnte Kommis Filip Pick, Gestalt bekommt auch der Vater von Julie Kafka, Jakob Löwy, ein alter grauhaariger «Opa», wie ihn Bašik bezeichnet, der fast täglich im Geschäft auftaucht und aufpasst, dass niemand von den Angestellten faulenzt. Während seiner Lehre kommt Frantík auch in die Wohnung oberhalb des Geschäfts, von deren sechs Zimmern drei als Lager dienen. Er macht Bekanntschaft mit dem Hauspersonal, unter anderem wohl mit der «bissigen Köchin» aus Kafkas Tagebüchern, die er auch nicht sonderlich sympathisch findet. Hier begegnet er auch zwei kleinen Mädchen, Kafkas Schwestern Gabriele und Valerie, deren Namen er allerdings nirgends erwähnt. Ottla kommt auch als Säugling nicht vor.

Offensichtlich hat Julie Kafka Gefallen an dem tüchtigen Lehrling gefunden, so dass sie ihm eines Tages anbietet, ihrem Franz zu helfen, sein Tschechisch, in der deutschen Grundschule ein Pflichtfach, zu verbessern. Jeden Nachmittag lernen nun die beiden Buben zusammen eine Stunde Tschechisch, die zweite gehen sie spazieren. Zum Leidwesen der Kafka-Forscher hatte es Bašik allerdings versäumt, in ein Notizbuch, wie später Gustav Janouch, jedes Wort des Zehnjährigen zu notieren. Für ihn bedeutet der Unterricht vor allem die Abwechslung in dem anstrengenden zwölfstündigen Arbeitstag.

Sein Unterricht nimmt ein Ende, als einmal während eines Spaziergangs sich die beiden Buben in der Geschlechterfrage verfangen: «Als sie an einem schönen Tag schwimmende bunte Enten und würdige Schwäne auf dem Teich im Park unterhalb des Franz-Josephs-Bahnhofs bewunderten, sagte Kafkas Franzl: ‹Weisst du, Franz, dieser Teich mit den Felsen und dem Wasserfall, den Blumen und Fischen, Enten und Schwänen gefällt mir sehr, es ist schön!› Frantík nickte zustimmend, und sie fingen an, über verschiedene Formen der Schönheit und was am Schönsten wäre, zu sprechen. Sie wetteiferten miteinander im Erinnern und Ausdenken von allerlei Beispielen für den Begriff des Schönen und das Wort Schönheit und schön, bis der kleine Kafka, in der Annahme, er entdeckte die Bedeutung der grössten Schönheit, siegesgewiss ausrief: ‹Das Schönste ist die Freundschaft!› Wahrscheinlich hatte er diesen Satz irgendwo gehört oder gelesen in irgendeinem Kinderbuch. Denn wie Frantík wusste, hatte der Junge keinen Freund und hatte auch keine Gelegenheit, sich mit jemand anderem anzufreunden. Er musste natürlich seinen Schüler übertrumpfen und überlegte deswegen schnell, wie und womit er seine Überlegenheit im Beurteilen, was schön ist, beweisen könnte. Da besann er sich auf den Satz aus einem Buch über das Geschlechtsleben und benutzte ihn, ohne zu überlegen. Ernst und würdig wie ein Priester erklärte er: ‹Es gibt im menschlichen Leben nichts Schöneres als ein zufriedenes Eheleben.›»

Eine unverzeihliche Dummheit

«Erst beim Anblick des überraschten Kafka wurde ihm klar, dass er eine unverzeihliche Dummheit machte. Und sofort konnte er sich davon auch überzeugen. Mit einem lebhaften Interesse fragte der Junge: ‹Wieso? Die Ehe, das sind doch Mutter und Vater, was ist dran so Schönes?› Frantík machte sich viel Mühe, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen, aber der Junge beharrte darauf, dass er ihm die Schönheit der Ehe erkläre. So sagte er: ‹Nun, ist es nicht schön, wenn du Vater und Mutter hast, die sich um dich kümmern, dich gerne haben, und wenn du gut lernst, du wiederum ihnen Freude machst? Und die anderen Kinder auch. Ist es nicht schön?› Der Junge, offensichtlich unzufrieden, schwieg eine Weile und dachte nach, bis er auf eine neue Idee kam, die aus ihm geradezu heraus brach: ‹Und wie bekommt man Kinder? Woher kommen sie? Sage es!› Frantík gibt zwar Franz eine ausweichende Antwort: ‹Es ist so, wenn Vater und Mutter ein Kind haben wollen, dann beten sie, und eines Tages finden sie es im Bett›; das Gespräch hat für ihn aber doch unangenehme Folgen. Der kleine Franzl hatte sehr wahrscheinlich über das Gespräch zu Hause geplaudert, und Julie Kafka beendet die Unterrichtsstunden. Sie ist es allerdings auch, die den Vorschlag macht, den flinken Lehrling in der Buchhaltung arbeiten zu lassen, und damit eigentlich seinen späteren beruflichen Aufstieg ermöglicht.»

Nach dem, was Franz Kafka in dem fast siebenundzwanzig Jahre später verfassten «Brief an den Vater» schrieb, hätte die Lehrzeit bei Herrmann Kafka für den jungen Frantík ein Martyrium sein müssen. «Dich aber hörte und sah ich im Geschäft schreien, schimpfen und wüten, wie es meiner damaligen Meinung nach in der ganzen Welt nicht wieder vorkam. Und nicht nur schimpfen, auch sonstige Tyrannei. Wie Du zum Beispiel Waren, die Du mit anderen nicht verwechselt haben wolltest, mit einem Ruck vom Pult hinunterwarfst . . . und der Kommis sie aufheben musste . . .» Von solchen Vorkommnissen findet man allerdings in Bašiks Erinnerungen kein Wort, obwohl sich Kafka in seiner Schilderung auf ungefähr die gleiche Zeit bezieht. Er erlebt Herrmann Kafka als einen strengen, aber gerechten und im Grossen und Ganzen ruhigen Lehrherrn.

Alena Wagnerová